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Interview mit Rémi Brague
Interview mit Rémi Brague
Silvio Guerra

Der französische Philosoph Rémi Brague lehrt an der Universität Paris-I Vergleichende Ideengeschichte der antiken und mittelalterlichen Kulturen. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. In seinem 1992 erschienen Werk Europe, la voie Romaine untersuchte er mit einem neuen Ansatz die Gründe für die geschichtliche und intellektuelle Einzigartigkeit unseres Kontinents. In Deutschland erschien das inzwischen vergriffene Werk 2003 unter dem Titel Europa, eine exzentrische Identität. In Spuren geht Brague nochmals auf die besonderen Merkmale Europas ein und die Herausforderungen der Zukunft.
«Ich fürchte, eine gewisse "Erziehung" führt nur zum Hass gegen sich selbst». Nur die Begegnung mit einer höher stehenden Kultur hat den Fortschritt Europas bewirkt.

Der Papst hat in seiner Regensburger Vorlesung einige Dinge gesagt, die sich in Ihrem Werk Europe, la voie Romaine ebenfalls wiederfinden. Benedikt XVI. sagte: «[...] es ist nicht verwunderlich, dass das Christentum trotz seines Ursprungs und wichtiger Entfaltungen im Orient schließlich eine geschichtlich entscheidende Prägung in Europa gefunden hat. Wir können auch umgekehrt sagen: Diese Begegnung, zu der dann noch das Erbe Roms hinzutritt, hat Europa geschaffen und bleibt die Grundlage dessen, was man zu Recht Europa nennen kann.»
Sie sagen in Ihrem Buch: «Die gleiche Dynamik beseelt die europäische Geschichte. Man kann sie ausgehend von der "römischen" Einstellung definieren, beziehungsweise von dem Bewusstsein eines überlegenen "Hellenismus" und (kulturell) unterlegener Barbaren, die unterworfen werden müssen.»
Könnten Sie in groben Zügen die hauptsächlichen Etappen erläutern, die zu dieser "Begegnung" geführt haben?

Wie soll ich einen mehr als zwei Jahrtausende langen Weg zusammenfassen? Ganz kurz gesagt beginnt er noch vor dem Christentum mit der Anpassung des Judentums an die griechische Kultur; zum Beispiel in Alexandria, der Stadt, in der die Bibel ins Griechische übersetzt worden ist und die Persönlichkeiten wie Philon von Alexandria hervorgebracht hat. Aber auch das Heilige Land war hellenisiert, und wahrscheinlich hat sich Jesus auf Griechisch an Pilatus gewandt. Der heilige Paulus, übrigens römischer Bürger, war von griechischer Kultur geprägt und konnte bei Bedarf die damals populären Dichter zitieren. Die römischen Eliten hatten ihrerseits seit der Eroberung Griechenlands im 2. Jh. v.Chr. griechisch gelernt. Sie begaben sich manchmal zum Studium nach Griechenland und lasen die Klassiker im Original. Als sich die christliche Verkündigung nach Europa wandte - in der Apostelgeschichte (Apg 16,9) wird berichtet wie Paulus träumt, ein Mazedonier rufe ihn zu Hilfe - da fand sie Gemeinden von Juden und "Heiden" vor, die schon von griechischer Kultur geprägt waren.

Wie fügte sich hier «das Erbe Roms» ein?
Rom spielte eine Doppelrolle. Einerseits fügte es ein Element hinzu, das im griechischen Erbe nicht oder nur minimal vorhanden war: das Recht, also der Gedanke, Regeln aufzustellen, die für alle, unabhängig von ihrer Herkunft, gleichermaßen gelten. Dieser Gedanke entwickelte sich in der Folge unter dem Einfluss des Christentums weiter. Das erforderte Jahrhunderte, führte aber schließlich dazu, dass auch Personen einbezogen waren, die die griechische Polis und die römische Republik nicht als vollgültige Rechtssubjekte angesehen hatten: Sklaven und Frauen.

Wie hat diese "Begegnung" - wie der Papst sagt - «Europa geschaffen»? Sie selbst vertreten ja auch diese Ansicht, wenn Sie von der «Dynamik» sprechen «die den Fortschritt der europäischen Geschichte bewirkt hat».
Es handelt sich um die Nebenrolle Roms. Sie betrifft nicht die geschichtlichen Taten der Römer, sondern das Vorbild, das sie mit ihrer Beziehung zur griechischen Kultur gegeben haben. Die Römer besaßen den Mut, sich den Griechen gegenüber ihrer eigenen Unterlegenheit bewusst zu sein, obwohl sie diese auf den Schlachtfeldern besiegt hatten. Sie akzeptierten, von ihnen zu lernen, sie assimilierten ihre Kultur und gaben sie sogar weiter.

Warum ist diese Begegnung jahrhundertelang "das Fundament" geblieben und das, was «den Fortschritt Europas bewirkt hat»?
Sie hat den politischen Zusammenbruch des Römischen Reiches überlebt und bis zum Mittelalter und zur Renaissance dauerhafte Wirkungen erzielen können, weil sie von der parallelen Beziehung zwischen Christentum und Altem Bund gestützt wurde. Tatsächslich ist der Neue Bund auf der Grundlage des Alten verständlich, als seine Erfüllung in Jesus Christus. Die Begegnung mit einer höher stehenden Kultur ist es, die den Fortschritt Europas bewirkt hat: Aus dem Gefühl der Unterlegenheit ist der Wunsch entstanden, sie durch beharrliches Bemühen um Assimilation zu kompensieren. Gerade seine Armut zwang Europa zu lernen. Sehen Sie nur was die lateinische Christenheit aus ein paar Fetzen Platon und Aristoteles gemacht hat: Augustinus, Anselm, Abelard. Die Byzantiner ihrerseits hatten nicht nur den ganzen Platon und den ganzen Aristoteles in ihrer Bibliothek, sondern Plotin, Proklos, Simplizius und so weiter. Und sie haben nicht viel daraus gemacht...

In Ihrem Buch stellen Sie fest, dass Europa «seine Anfänge ausserhalb seiner selbst hat» und deshalb seine kulturelle Identität "exzentrisch" ist. Ihre Aussage scheint ambivalent zu sein. Könnten Sie Ihre Gedanken präzisieren und erklären, worin der Einfluss und die Bedeutung dieser «exzentrischen Identität» besteht?
Tatsächlich hat ein moslemischer Intellektueller unter Bezug auf die Vorlesung des Papstes in Regensburg Europa beschuldigt, in Wirklichkeit ein "christlicher Club" zu sein, denn man lehne es ab, den Beitrag des Islam zur europäischen Kultur anzuerkennen.
Ich weiss nicht, von welchem Moslem Sie sprechen, aber er scheint mir intellektuell kaum "gefährlich". Er vermischt alles: die europäische Kultur, die keine Grenzen kennt, und die Europäische Union, eine politische Konstruktion; aber auch den Islam als Religion und den Islam als Zivilisation. Mein Buch über die exzentrische Identität Europas unterschied schon all diese Dinge. In meinem soeben erschienenen Buch Au moyen du Moyen Age (Mitten im Mittelalter, La Transparence, Chatou 2006) habe ich versucht, dies noch klarer zu machen. Was soll man unter dem «Beitrag des Islam zur europäischen Kultur» verstehen? Handelt es sich um die Religion als solche, so ist der Beitrag null. Und bei der Zivilisation? Dieser Beitrag begann mit der arabischen Eroberung im VII. Jahrhundert. Er eignete sich zwei Regionen mit einer alten, verfeinerten Kultur an, Ägypten und Mesopotamien. In Syrien und dem Irak war der Hellenismus schon seit vielen Jahrhunderten verbreitet und die Araber haben ihn geerbt. Die islamische Kultur ist nicht nur von Moslems geschaffen worden. Die Übersetzer, die Wissenschaft, Medizin und Philosophie der Griechen ins Arabische übertragen haben, waren Christen. Der größte Arzt, Razi, war ein Freidenker und spottete schon über die blosse Vorstellung einer prophetischen Offenbarung. Der größte Astronom, Tabit ben Qurra, gehörte der kleinen Gemeinschaft der Sabäer an.
Im übrigen, einem christlichen Club anzugehören, würde mich nicht sonderlich stören. Ich sehe nicht, warum ich diesen doch respektablen Ausdruck für abwertend halten soll, den ein türkischer Politiker erfunden hat, der mir sehr viel weniger wert zu sein scheint. Mich stört an der Europäischen Union auch, dass es sich um einen Club handelt, aber um einen Club von Lügnern, von Personen, die den offensichtlichen christlichen Einfluss leugnen.
Das Schlimmste aber ist das ganze derzeitige Gerede über den Beitrag des Islam zur europäischen Kultur. Dass die moslemischen Apologeten ihn maßlos aufblähen, kann man verstehen: Sie tun ihre Pflicht und ihre Arbeit als Propagandisten. Dass aber europäische Schreiberlinge ihnen auf den Fersen folgen, das ist offen gesagt unerträglich. Hier zahlt man Europa in eigener Münze heim: im 18. und 19. Jahrhundert haben in Europa viele Leute unverfroren jedweden arabischen Beitrag zur europäischen Kultur geleugnet. Und das war ein Fehler: Europa hat sich des in der arabischen Welt gewonnenen oder zumindest von ihr vermittelten Wissens auf Gebieten wie Astronomie, Mathematik, Medizin, Philosophie und so weiter bedient. Es ist gut daran zu erinnern, ganz einfach weil es wahr ist.
Heute aber möchte man, dass wir eine entgegengesetzte Legende bestätigen, nämlich dass die Araber alles erfunden hätten. Jede Lüge ist erlaubt: Man sagt sogar, der Islam habe Europa die Rationalität in der Theologie gebracht! Es scheint unglaublich... der heilige Augustinus hat zwei Jahrhunderte vor Mohammed gelebt. Der heilige Anselm hat die Grundlagen der theologischen Wissenschaft formuliert («glauben um zu verstehen, verstehen um zu glauben») und ist dreißig Jahre vor den ersten Übersetzungen aus dem Arabischen gestorben. Abelard hat sie nicht gekannt. Thomas von Aquin hat sicher die Kommentare zu Aristoteles von Averroes gelesen. Aber er hat nicht seine "theologischen" Arbeiten lesen können, die erst zwei Jahrhunderte nach ihm übersetzt worden sind (und zwar der Wahrheit halber ins Hebräische).
Sagen wir abschließend, dass es eine bestimmte Art gibt, Kultur darzustellen, die auf zwei Absurditäten beruht: 1) indem man Kultur als ein Objekt betrachtet, das man transportieren, einem anderen abtreten kann (und es deshalb verliert); 2) indem man davon ausgeht, sie verbreite sich ganz natürlich von selbst, indem sie ausstrahlt, ohne den Willen und die Mühe, sie sich anzueignen. Kultur gibt es aber nur, wenn man selbst die Anstrengung auf sich nimmt zu lernen. Wer diese Lehrzeit ablehnt, verliert, was er empfangen hat. Wer diese Mühe auf sich nimmt, wird umgekehrt fähig, anderswo auf die Suche nach Nahrung für das eigene Denken zu gehen. Man braucht bereits ein Feuer, um zu merken, dass man mehr Holz suchen muss. Historisch gesehen beginnt die intellektuelle Revolution Europas zu Anfang des 11. Jahrhunderts, und die Auseinandersetzung zwischen Papsttum und Kaiserreich ist ein Indiz dafür. Die Universität von Bologna hat etwa ab 1080 die Lehrtätigkeit aufgenommen. Diese Revolution hat die Suche nach fremden Quellen bewirkt, nach arabischen aber auch nach griechischen, wie etwa im Fall des Pseudo Dionysius Areopagita. Das Interesse am arabischen Wissen ist die Wirkung dieses intellektuellen Erwachens in Europa, sicher nicht seine Ursache.
Von den «drei Religionen des Buches» zu sprechen ist eine ebenso unerträgliche Vereinfachung wie die Rede von den «drei monotheistischen Religionen» oder, noch schlimmer, von den «drei Religionen Abrahams». Die Beziehung zum Buch, das Verständnis der Einheit Gottes und die Rolle Abrahams sind in den drei Religionen verschieden.

An einer Stelle Ihres Buches schreiben Sie: «Die Zivilisation des christlichen Europa ist von Menschen aufgebaut worden, deren Ziel keine "christliche Zivilisation" war, sondern die Konsequenzen ihres Glaubens an Christus so weit wie möglich zu treiben. Wir verdanken sie Menschen, die an Christus glaubten, nicht an das Christentum». Was wollten sie sagen mit «die Konsequenzen so weit wie möglich zu treiben»?
Ich mache in der Tat einen Unterschied zwischen Christen, die an Christus glaubten, und den Christianisten, die an das Christentum glaubten. Für die ersten heisst die Konsequenzen aus dem eigenen Glauben zu ziehen, ihn anderen nicht aufzuzwingen, aber sicher ihn vorzuschlagen und ihn im eigenen Leben anzuwenden. Das bringt mit sich, jeden Menschen als ein freies, von Gott geliebtes Geschöpf zu betrachten, erlöst vom Opfer Christi. Wenn man das ernst nimmt, dann wird es Wirkung zeigen. Wenn man bedenkt dass jeder Mensch als Ebenbild Gottes ein Gewissen besitzt, das ihm den direkten Zugang zu Ihm erlaubt, kann man ihn nicht mehr behandeln, wie es gerade kommt. Bergson sagte, die moderne Demokratie sei "von evangelischer Natur".

Sie sprechen auch von einer Gefahr für die Bewohner Europas, wenn sie nämlich den eigenen europäischen Charakter als «Besitz und nicht als etwas zu Erwerbendes, als Ergebnis einer Situation und nicht als ein Abenteuer, als Bevorzugung statt einer universalen Berufung...» betrachten.
Das alles geschieht einfach, weil sie sich als Vertreter einer Zivilisation unter anderen betrachten, die alle gleichberechtigt sind. Statt dessen müssten wir wieder lernen wahrzunehmen, dass wir alle, unabhängig von geographischer Lage, sozialer Stellung und Religionszugehörigkeit in einem Prozess der Zivilisation (in der Einzahl) engagiert sind, der nicht abgeschlossen ist, auch nicht in Europa.

Gibt es nicht auch eine Krise bei der Weitergabe unserer Vergangenheit als einer lebendigen Tradition? Glauben Sie nicht, dass es dabei vor allem um ein Problem der Erziehung geht, beziehungsweise um die Unfähigkei der Bürger Europas, die Wirklichkeit und besonders ihre Vergangenheit als etwas Positives zu betrachten, etwas mit dem man sich auseinandersetzen sollte?
Gewiss. Wenn wir nichts mehr weiterzugeben haben, wozu sollten wir noch das Leben weitergeben? In der Tat fürchte ich, dass eine gewisse "Erziehung" nur zum Hass gegen sich selbst führt. Auch in diesem Fall bezahlen wir einen Fehler mit dem gegenteiligen Fehler. Zu lange hat der Geschichtsunterricht darin bestanden zu zeigen, wie eine Nation tausend von "bösen" Fremden verursachte Prüfungen bestehen mußte, um die eigene Einheit, ihre "natürlichen" Grenzen und so weiter zu erlangen. Jetzt reduzieren zu viele Menschen die Vergangenheit auf eine Kette von Verschulden. Man versinkt in einem Schuldbekenntnis, das zu keiner Lossprechung führt. Diese Krankheit kann man nicht heilen, indem man Inhalt oder Methoden des Geschichtsunterrichts ändert (was natürlich sehr gut wäre), sondern indem man wieder lernt, Vergebung zu empfangen.

Der Papst schreibt die Entwicklung des Christentums dem Dialog zwischen Glaube und Vernunft zu. Wie denken Sie darüber?
Das ist vollkommen richtig. Aber ich würde den Gegensatz zwischen dem Glauben Israels und der griechischen Rationalität nuancierter betrachten. Die Rationalität ist kein Vorrecht des Hellenismus. Die Begegnung Israels mit dem Hellenismus hat mit der Eroberung Alexanders des Großen begonnen; im Alten Testament gibt es Texte, die das bezeugen, wie das Buch der Weisheit, das übrigens griechisch geschrieben ist. Aber man findet auch Rationalität. Wie hätten die Juden sonst die griechische Rationalität aufnehmen können? In der Bibel fehlen die Begriffe: sie ist kein Philosophiebuch. Aber man findet darin alle großen philosophischen Ideen in Form von Erzählungen. Vor allem den logos: die Propheten stellen sich vor, Gott strenge einen Prozess gegen Israel an (siehe u.a. Hos 4); im Gegensatz dazu protestiert Ijob gegen Gott. Der biblische Gott ist jemand mit dem man sprechen kann und der bereit ist sich zu rechtfertigen, Gründe anzugeben. Oder die Natur: Gott erwartet, dass die Menschen Gerechtigkeit hervorbringen wie der Weinstock die Trauben (Jesaja 5), spontan, denn das ist ihre Natur. Oder schließlich das Gewissen: Die Menschen sollten wissen, wie sie sich gut verhalten.
Der Dialog zwischen Glaube und Vernunft beginnt sehr früh. Und er lädt jedes der beiden Elemente ein, über sich hinaus zu gehen.